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Essbare Blüten

Speisen und Getränke mit Blüten anzureichern ist kein Auswuchs der Haute Cuisine oder ein allgemeiner Blütenküchentrend, sondern ein uralter Brauch. Seit Urzeiten sammelt der Mensch Blumen nicht nur ihrer Schönheit oder ihres verführerischen Duftes wegen, sondern auch aufgrund ihres feinen Geschmacks. Anders als heute waren essbare Blüten früher jedoch gleichsam unabdingbarer wie selbstverständlicher Bestandteil des menschlichen Überlebens. Bereits unsere frühesten Vorfahren wussten, dass ihr Nährwert ausgesprochen wertvoll war. In Zeiten, wo es weder Lebensmittelläden noch Apotheken oder Drogerien gab, waren Blüten wegen ihren enthaltenen Stoffen zur Vorbeugung von Krankheiten unerlässlich. Heute werden sie zu den Neutrazeutika bzw. medizinisch wirksamen Lebensmitteln gezählt, oder hipper ausgedrückt, zum «Superfood». Schon Hippokrates sagte: «Lass die Nahrung deine Medizin sein und Medizin deine Nahrung». Hippokrates von Kos war ein griechischer Arzt und Lehrer und lebte um 460 bis 370 vor Christus.

 

Die Verwendung von Blüten sowohl in der Volksküche als auch auf den grossen Tafeln der Reichen und Adligen ist seit Menschengedenken so mannigfaltig wie die Blumen selbst. In der Antike beispielsweise galten Malven als das Gemüse der Armen, Rosenblüten wurden in Breie und Omeletten gemischt oder mit Löwenzahn eine Art Honig hergestellt. Mit Rosen oder Waldmeister aromatisierten die Römer auch ihren Wein. Generell kamen Blüten bei den alten Römern und Griechen als Zutaten von aphrodisierenden Liebetränken häufig vor. Bei den reichen Römern besonders beliebt war Blütenkonfekt – schon damals war diese Methode zur Haltbarmachung bekannt, denn in Zucker ummantelt liessen sich Blüten wunderbar konservieren. Da Zucker seinerzeit sehr teuer war, waren Defrutum, ein Traubensaftkonzentrat, und Bienenhonig bekannte Alternativen für die ärmeren Bevölkerungsschichten. Und nicht zuletzt wurden auch Nelken, Kapern oder Artischocken gerne verzehrt.

 

Zum maximalen Luxus in der Küche gehörte das als Gewürz oder zum Färben von Speisen genutzte Safran, welches aus den im Inneren des violetten Krokusses dünnen Staubfäden gewonnen wird. Die ärmeren Leute bedienten sich hierfür des Klatschmohns oder der Stockrose. Später, im Europa des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, feierten Königshäuser die Blüten wie Könige selbst. Sie wurden sowohl roh gegessen als auch eingelegt, kandiert, getrocknet, zu Likören und Weinen verarbeitet oder als pompöse Dekoration der verschiedensten Speisen eingesetzt.

 

Dass das Auge als Erstes isst, weiss der Mensch mit seinem Sinn für das Schöne und Ästhetische seit Urzeiten. Inzwischen belegen zahlreiche Studien, dass das Aussehen eines Gerichts einen immensen Einfluss auf den empfundenen Geschmack hat. Wenn eine Mahlzeit schön und lecker aussieht, schmeckt sie uns tatsächlich auch viel mehr. Unser Sehsinn beeinflusst uns derart, dass wir uns bei der blossen Betrachtung sowie vom optischen Eindruck eines Gerichts dafür oder dagegen entscheiden. Und Blumen sind hierfür bestens geeignet, wenn es darum geht, gerne und genüsslich zu essen.

Mitte des letzten Jahrhunderts verschwand in den westlichen Ländern das Wissen um den Einsatz von Blüten in der Küche im Zuge der landwirtschaftlichen Industrialisierung beinahe vollständig aus dem Gedächtnis der Menschen. Blüten als Lebensmittel waren zu wenig interessant, weil wirtschaftlich zu unattraktiv. Als Resultat dieser Entwicklung sind wir heute nicht nur mit der Einseitigkeit der Landwirtschaft konfrontiert, weil viele heimische Wildpflanzen als Unkraut bekämpft werden (häufig mit Pestiziden), sondern auch mit der schwindenden Artenvielfalt (welche auch noch auf andere Faktoren zurückzuführen ist). Wer also seinen Beitrag gegen das Aussterben der Pflanzen- und Tierarten leisten möchte, tut Mensch und Natur einen dringenden Gefallen, wenn er sich für einen Naturgarten entscheidet und darin blütenbildende, insektenfreundliche Pflanzen gedeihen lässt. Übrigens, es waren die «new age» Vegetarier und Veganer, die entscheidend dazu beigetragen haben, das Bewusstsein über Naturgärten und das Kochen mit Blüten bzw. die Naturküche generell wiederherzustellen.

Ohne Bienen und andere Insekten keine Bestäubung, ohne Bestäubung keine Blüten und ohne Blüten ist nur in seltenen Fällen eine Fruchtbildung möglich. Auch für Samen braucht es fast immer Blüten. Blüten sind demnach elementar für den Fortbestand einer Pflanze. Denn mit ihrem Duft und ihrer Farbe locken Pflanzen bestäubende Insekten an, die durch das Sammeln von Pollen und Nektar das in den Blumen enthaltene Erbgut weitertragen und so zu ihrer Vermehrung führen.

Die wichtigste Entscheidung, die eine Pflanze treffen muss, ist also das Blühen einzuleiten. Wie sie diesen Zeitpunkt steuert, das heisst den Übergang von der vegetativen in die generative Phase, hat massgeblich damit zu tun, die Signale ihrer Umwelt zu deuten wie etwa die Tageslänge und Temperatur. Ihr Standort als auch die Umweltbedingungen spielen eine wesentliche Rolle und entscheiden darüber, ob sie überhaupt Blüten tragen «kann».

Lesetipp: Mehr zu diesem Thema erfahren Sie in meinem Blog «Plädoyer für Tier und Natur inkl. 15 Tipps zur Rettung der Insekten» vom 8. Juni 2020.

 

Es ist also gar nicht lange her, als unsere Grosseltern noch wie selbstverständlich über Mutter Erdes Gaben vor der eigenen Haustüre Bescheid wussten und ihre Speisen mit Blüten verfeinerten. Einige Beispiele: Mit Taubnesselblüten süssen sie so manche Gerichte. Um eingelegte Gurken das gewisse Etwas zu verleihen, gaben sie Dillblüten mit in die Gläser. Eine besondere Spezialität waren ihre in Teig ausgebackenen Holunder- und Mädesüssblüten. Ringelblumen galten als «das Safran für arme Leute» und wurden zum Färben von Suppen, Saucen oder der Butter in Gelb oder Rot verwendet. Mit Kornblumen und Veilchen wiederum wurden die Speisen blau-violett. Kaum überliefert ist, dass Kapern gerne durch die Blütenknospen der Kapuzinerkresse, des Gänseblümchens oder der Ringelblume ersetzt wurden.

 

In exotischen Ländern gehörten Blüten schon immer zum kulinarischen Genuss. In der arabischen Küche wird seit jeher mit Rosen und Rosenwasser gekocht und in Asien, allem voran in China, Japan und Korea, haben Taglilien, Chrysanthemen oder Ringelblumen nach wie vor Tradition. Sie werden gedünstet oder frittiert serviert. Bekannt ist auch der Jasminblütentee. Die indigenen Völker Mexikos geben Yucca-Blüten (Palmlilie) in ihre Eintöpfe und die Goldmelisse wird bei den Indianern Nordamerikas seit jeher als Tee zubereitet. Aber auch in Italien oder Frankreich sind Zucchini- oder Kürbisblüten hoch im Kurs, ebenso Brokkoli, Blumenkohl und Artischocken, die zu den Blütenknospen bzw. Blütenständen gehören.

Wie andere Lebensmittel auch, weisen die vielen essbaren Blüten eine breite Palette an Aromen auf: von blumig (z. B. Veilchen), zuckersüss (z. B. Borretsch) oder nussig (Gänseblümchen) bis hin zu würzig wie pfeffrig, kresseartig oder scharf (z. B. Kapuzinerkresse oder Wiesenschaumkraut). Die Aromavielfalt ist derart gross, dass sich für jeden Geschmack garantiert nicht nur eine Blume findet. Ausserdem sind viele für ihren betörenden Duft bekannt, allem voran Rosen, Veilchen und Jasmin. Und nicht nur das: Vielen Blüten haben, wie kann es auch anders sein, eine positive Wirkung auf Körper und Geist. So wirkt z. B. der Duft von Lavendel entspannend und die Kamille ist für ihre entzündungshemmenden Inhaltsstoffe bekannt. 

Es gibt viele essbare Blüten, die wunderbar schmecken, sowie solche, die zwar zum Verzehr geeignet, jedoch kein Genuss oder nur in kleineren Mengen bekömmlich sind. Aber es gibt auch giftige Blüten wie Akelei, Blauregen, Christrose, Eiben, Eisenhut, Engelstrompete, Fingerhut, Goldlack, Goldregen, Herbstzeitlose, Maiglöckchen, Hahnenfuß, Schierling, Stechapfel, Steinklee, Tollkirsche oder Nachtschattengewächse wie Auberginen, Kartoffeln, Paprika oder Tomaten. Im Gegensatz zu ihren Früchten sind die restlichen Pflanzenteile toxisch. Oft reichen schon geringe Mengen aus, um einen erwachsenen Menschen zu töten. Beim Fingerhut genügen beispielsweise drei Gramm. Besondere Vorsicht ist bei Pflanzen mit Doppelgängern geboten. Eine Verwechslungsgefahr liegt zum Beispiel beim Bärlauch und Maiglöckchen, der Tag- und Belladonnalilie oder dem Duft- und Usambaraveilchen vor.

Buchempfehlung:

111 TÖDLICHE PFLANZEN, DIE MAN KENNEN MUSS, von Klaudia Blasl, Herausgeber: Emons

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